Beitragsbild Der Sprung Simone Lappert

»Der Sprung« Simone Lappert

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Hardcover Leinen, Diogenes Verlag, 336 Seiten
01. September 2019, 22 Euro
ISBN 978-3-257-07074-3

»Der Sprung« von Simone Lappert wurde mir freundlicherweise vom Diogenes-Verlag zu Rezensionszwecken kostenlos zur Verfügung gestellt. Selbstverständlich wird mein Urteil dadurch in keiner Weise beeinflusst. Dieser Text enthält Werbung in Form eines Affiliate-Links zu Amazon.

Keine Lust, selbst zu lesen? Ich lese dir den Beitrag vor!

Buchbesprechung »Der Sprung« von Simone Lappert, gelesen von Claudia Stieglmayr

# Das Zitat

»›Den Sprung hat sie von ihrem Erzeuger‹, hatte die Mutter damals am Telefon gemeint, ›der wusste auch nicht, wohin mit seiner Energie, und ständig musste man ihm aus irgendeinem Schlamassel helfen. Besser, ich wäre diesem Vorstadtcasanova nie begegnet.«

# Der Inhalt

Blumenmädchen Manu landet durch einen blöden Umstand auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses. Während sich unten Schaulustige und Journalisten drängen, bleibt sie über Nacht wütend oben. Dass sie keine angehende Selbstmörderin ist, wird man ihr nicht glauben. Weil sie keine Lösung sieht und nicht in die Psychiatrie will, bleibt Manu ratlos und böse viele Stunden auf dem Dach. Dass derjenige, der das Missverständnis aufklären könnte, ausgerechnet mit Manus Schwester und Bürgermeisteranwärterin Astrid über Nacht ein außereheliches Stelldichein hat, ist natürlich doppeltes Pech.

Was um Manu herum passiert, wie die Welt sich weiterdreht und wie sich manch ein persönlicher Weltenlauf dadurch verändert, dass in einer Kleinstadt ein Mädchen auf dem Dach steht – alles das beschreibt Simone Lappert für zehn verschiedene Personen gestochen scharf und in Großaufnahme. Sie zoomt sich kameragleich in deren Leben und wieder hinaus.

Szenisch beleuchtet Lappert die Frage, wie es denn eigentlich dem Polizisten Felix geht, der eine scheinbar Lebensmüde zum Verlassen des Dachs bewegen soll? Oder dem verliebten Finn, der so frisch verschossen ist in die Manu auf dem Dach, dass er nicht einmal ihren Nachnamen kennt? Was macht das alte Kiosk-Ehepaar, Theres und Werner, das eigentlich längst pleite ist, aber einen Nachmittag lang richtig gute Geschäfte macht? Und das dickliche Teenie-Mädchen Winnie, das von allen immer nur gemobbt wird? Ausgerechnet Winnie kann dem hippesten It-Girl der Schule aus der Patsche helfen. Zufällig sorgt der obdachlose Henry dafür, dass eine Kopfbedeckung aus Egon Moosbachers ehemaligem Hutladen zum Star einer Mailänder Modekollektion werden wird. Die frustrierte Schneiderin Maren brennt mit einem Bekannten nach Paris durch, und am Ende stirbt tatsächlich jemand.

# Die Form

»Der Sprung« beginnt mit dem Sprung. Und zwar beschrieben in einem einzigen beeindruckenden Satz; unfassbare, gewaltige 277 Wörter lang – und dennoch gut lesbar! Der Rest des Romans beschreibt, wie dazu kommen konnte und musste in der erzählten Zeit von zwei Tagen. Nach meinem Empfinden sind erzählte Zeit und Erzählzeit etwa deckungsgleich. Dieser Umstand verleiht der Geschichte eine besondere Dynamik.

»Der Sprung« ist ein moderner Roman, 39 Kapitel lang und in der dritten Person verfasst. Simone Lappert hat die Perspektive der personalen Erzählerin gewählt, was die perfekte Wahl war! So bleibt sie beschreibend im Hintergrund und schwenkt ihre Aufmerksamkeit kameragleich von Person zu Person. Bis auf zwei (Roswitha, die Café-Besitzerin, und Hannes, ein gesundheitsverrückter Ehemann) erhalten alle handelnden Personen eigene Kapitel.

»Der Sprung« hat seine Wurzeln in einer wahren Begebenheit, wie die Autorin in einem Interview mit ihrem Verlag verrät. Simone Lappert hat sich das Motiv »Eine Frau steht auf einem Dach« herausgegriffen und spürt der Frage nach, wie unterschiedlich die Zuschauer deuten, sehen und empfinden.

Die Schriftstellerin hat ganz bewusst der heimlichen Hauptakteurin kein eigenes Kapitel gewidmet. Auf diese Weise wollte sie die »Deutungshoheit« dem Lesenden überlassen und nichts vordenken – das ist ihr gelungen.

Sprachlich agiert die Autorin absolut virtuos, aber zugleich »senza fronzoli« – ohne Schnickschnack, wie sie Modedesigner Ernesto über den Hut von Egon Moosbacher sagen lässt.

Ich habe gleich mehrere Lieblingssätze in diesem Buch. Beispielsweise: »Mit jedem Gramm Muskelmasse, das er zunahm, beging er ein Gramm Verrat an ihr, mit jedem Gramm Fett, das er verlor, schmolz er sich die gemeinsame Vergangenheit von den Rippen.« Und auch eine Formulierung, zum Niederknien schön, wie ich finde: »Ich mag es nicht, wenn man mich in eine Zeit zurückfragt, die es nicht mehr gibt.«

# Mein Fazit

Dieser Roman ist quasi sein eigenes Drehbuch und könnte eins zu eins genau so verfilmt werden. Ich weiß, dass ich in letzter Zeit mit Superlativen recht großzügig gewesen bin, aber »Der Sprung« ist neben »Leinsee« bislang das Beste, was ich in diesem Jahr gelesen habe (gut, was ich aktuell lese, ist noch besser, spielt aber literarisch auch in einer ganz anderen Liga – stay tuned!).

Simone Lappert präsentiert mit »Der Sprung« eine beeindruckende Erzählkunst und begeisternde und zugleich leise sprachliche Virtuosität, die von großer Einfühlsamkeit zeugt.

Ich möchte jedem Freund von »leisen Filmen« empfehlen, diesen Roman zu lesen! Wenn es irgend möglich ist, bitte auf jeden Fall in einem Rutsch, damit die liebevollen Details dieses »Films« nicht überlesen werden. Sie sind teilweise so flüchtig, dass man sie nach einer Lesepause von einigen Tagen womöglich nicht mehr aufspürt.

Ich selbst habe mir für diese Besprechung zehn Seiten Notizen gemacht, so viel wie für bisher kein anderes Buch. Und doch wusste ich beim Lesen schon, dass ich diesem Roman in der mir selbst auferlegten Kürze nicht gerecht werden kann. Aber ich habe mir große Mühe gegeben.

»Der Sprung« ist sprachlich elegant und gut zu lesen, der Inhalt – Wahnsinn. Absolute Leseempfehlung von mir!

Claudia Stieglmayr

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