Reisefieber

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#Gut geplant ist halb gereist

Ich bin so aufgeregt, ich bin so aufgeregt! Wir machen einen Ausflug nach Berlin zu einer Messe. Boah, Berlin! Die Hauptstadt ist von uns knapp 300 Kilometer entfernt. Mein Mann sagt: »Nur 300«, ich sage: »Oha, 300!«. Damit ist eigentlich schon vieles gesagt.

Ich leide an epigenetisch erworbenem Reisefieber. Mein Vater hatte das noch viel schlimmer als ich. Der war vor jeder noch so kleinen Reise, jedem Ausflug supernervös, übellaunig und gestresst. Dass ich mich so ungern aus meiner Komfortzone bewege, habe ich von ihm geerbt. Mein McGyver kennt das überhaupt gar nicht und kann die ganze Aufregung auch nicht verstehen.

ICH: Am Vorabend des Trips probiere ich noch aus, welche Tasche ich zur Messe mitnehme und welche dazu passenden Schuhe ich anziehe. Da man auf Messen gewöhnlich viele Kilometer zurücklegt, muss das schon bequemes Schuhwerk sein. Aber meine walderprobten, gut eingelaufenen Wanderschuhe möchte ich doch lieber nicht anziehen. Wir fahren ja nicht nach Kleinsiehstemichnicht, sondern nach BERLIN! Über die Frage High-Heels-oder-nicht-High-Heels muss ich mir keine Gedanken machen, da ich so etwas Lebensgefährliches gar nicht besitze. Zum Glück besitze ich aber eine kleine Tasche, die den Farbton der bequemen cognacfarbenen Schnürstiefeletten aufgreift. Jetzt muss nur noch entschieden werden, ob lieber die schwarze oder die cremefarbene Daunenjacke… Was ich »untendrunter« trage, weiß ich schon. Graue Jeans und schlichter wollweißer Kaschmir-Pullover mit meinem Lieblingsschal. Unsere drei Hunde sind schon ganz aufgeregt, weil ich ständig Klamotten an- und ausziehe. Letztendlich entscheide ich mich für die cremefarbene Daunenjacke, die ich von meiner Mutter geerbt habe. Die muss schließlich auch mal ausgeführt werden, und im Wald mit drei großen Hunden ist helle Bekleidung leider total unpraktisch und direkt eingeschmuddelt.

ER: »Welches Auto?«

ICH: »Lass uns das Strubbelmobil nehmen, bitte! Da hab ich ein Klo drin und Wechselwäsche für Notfälle,, man weiß ja nie, außerdem könnten wir im Dachbett notfalls übernachten. Falls irgendwo eine Vollsperrung ist oder so.«

ER: Fährt tanken.

ICH: Überlege noch mal ganz genau, ob ich auch an alles gedacht habe. Gebe den Kindern detaillierte Instruktionen, was bei den Hunden zu beachten ist, und dass sie diese bitte nach der Schule in den Garten zum Pieseln lassen. Vom ursprünglichen Plan, VOR den Kindern aufzustehen und abzureisen und sie mal alles selbst machen zu lassen, bin ich schon wieder abgewichen. Hätten sie bestimmt geschafft, sie sind ja schon 13 und 17, aber muss ja nicht sein.

ER: Geht schlafen.

ICH: Kann nicht einschlafen, so nervös bin ich. Im Traum passieren auf Autobahnen fürchterliche Unfälle, und Waisenkinder schwänzen den Unterricht, Hund häufeln ins Wohnzimmer. Unser Haus brennt ab. Schweißgebadet wache ich eine Stunde vor dem Weckerklingeln auf. Vor lauter Angst, ausgerechnet an diesem Tag zu verschlafen. Das ist mir noch NIE, wirklich noch NIEMALS passiert, aber wer weiß… Während der Vollautomat meinen ersten Kaffee brüht, räume ich geistesabwesend den Geschirrspüler aus, verstaue Besteck und Geschirr in Schubladen und Schränken. Dann fülle ich wie jeden Morgen zwei Brotdosen mit gesundem Essen, betanke Trinkflaschen mit Wasser, flitze die Treppe hinauf und wecke die Kinder mit der Frage nach dem Frühstückswunsch.

ER: Steht auf.

ICH: Schnell den Kaffee hinuntergestürzt und noch einen per Knopfdruck angefordert. Dann flugs die Frühstücksbestellungen ausgeführt und in die Dusche gesprungen. Fünf Minuten später sind auch meine Zähne geputzt. Ich werfe mich in die bereitgelegten Klamotten, schnalle den Hunden die Halsbänder um und sprinte für eine schnelle erste Hunderunde mit zwei Kötern in den Wald, nachdem ich noch schnell die Fahrräder der Kinder aus dem Schuppen geholt und abfahrbereit vor die Haustür gestellt habe.

ER: Trinkt Kaffee.

ICH: Eile im Stechschritt den ollen Elbhang hinauf und stelle dabei fest, dass der Kaschmir-Pulli viel zu warm ist. Das war ja wohl eine unüberlegte Entscheidung gestern. Und man weiß ja auch, dass es in Messehallen immer zu warm ist. Mist. Aber ich habe ja noch eine weitere Hunderunde Zeit, um mir neue Gedanken zum Textilproblem zu machen.

ER: Geht duschen.

ICH: Tausche schnell Hunde und tauche wieder ein in unseren Wald. Fünfundzwanzig Minuten später stelle ich erfreut fest, dass die Räder und also auch die Kinder verschwunden sind. Heute kommt jedenfalls niemand zu spät in die Schule. Reiseschweißgebadet checke ich schnell meinen bereits am Vorabend gepackten Rucksack: Eine Zeitung für die Fahrt, damit ich mich nicht langweile; McGyver unterhält sich nicht gern. Sonnenbrille – es ist zwar November und neblig-trüb, aber wer weiß. Jetzt noch schnell eine Wasserflasche füllen, eine Brotdose mit Banane und Kuchen und eine mit geschnittenem Apfel.

ER: Verdreht die Augen. (»Man kann da auch was kaufen!«)

ICH: Trinke schnell den inzwischen erkalteten zweiten Kaffee aus und sause dann ins Schlafzimmer, um mich noch mal umzuziehen. Keine Zeit zum Überlegen! Leicht panisch fällt mir ein, dass Zwiebellook immer schon eine gute Idee war, und greife wahllos nach T-Shirt und Cardigan.

ER: Füttert die Hunde.

ICH: Muss noch schnell online die Eintrittskarten ordern. Wie es passieren konnte, dass ich daran nicht schon gestern gedacht habe, ist mir ein Rätsel. Wie gut, dass man Handys auch mit aufs Klo nehmen kann, das spart enorm viel Zeit. Hatte ich den Kindern eigentlich gesagt, was sie im Notfall tun (Haus brennt) und an wen sie sich wenden können (Eltern verunglückt)? Hach, gut, dass die Große so besonnen ist, sie wird dann schon alles Nötige veranlassen und sich um ihren Bruder kümmern. Schon ihre Grundschullehrerin hatte gesagt, dass man sie irgendwo auf der Welt aussetzen und sicher sein könnte, dass sie nach Hause findet. Aber wahrscheinlich passiert ja gar kein Notfall. Bitte.

ER: Schiebt sein Portemonnaie in die Hosentasche.

ICH: Ziehe die cremefarbene Daunenjacke aus und renne noch mal schnell, einer plötzlichen Eingebung folgend, in den Keller, wo ich meine Jacken- und Mäntel-Sammlung aufbewahre. Verzweifelt wühle ich im Schrank herum, auf der Suche nach dem ockerfarbenen Parka, den ich zuletzt vor drei Jahren beim 50. meiner Schwesterfreundin getragen habe. Da! Ganz unten und zusammengerollt im letzten Fach liegt er und wartet auf mich. Großartige Idee. Passt auch perfekt zu Schuhen, Tasche und Schal.

ER: Schuhe, Jacke, Autoschlüssel.

Ich ernte noch einen kurzen, fassungslosen Blick, als mein Mann den Rucksack sieht. Ich weiß, was er denkt, und er sagt es zum Glück nicht. Gemeinsam besteigen wir dann das Auto und starten Richtung Berlin.

FAZIT: In der Zeitung habe ich eine Weile gelesen, die Sonnenbrille konnte ich für stolze drei Minuten kurz vor Berlin triumphierend aufsetzen. In den Messehallen haben wir für fast 50 Euro für jeden ein kleines Reisgericht mit Getränken gekauft. Auf dem Rückweg im Hauptstadt-Stau fragt McGyver, ob noch was zu essen da ist. Die erahnte Vollsperrung auf der Autobahn erfolgt kurz vor daheim, gut, dass wir zur Not das Dachbett gehabt hätten. Unser Haus ist nicht abgebrannt. Die Kinder haben meine Abwesenheit überlebt, genau wie die Hunde. Diese hatten allerdings am Ende des Tages drei Mahlzeiten abgestaubt, weil ich nur einem Kind gesagt hatte, dass kein Füttern nötig sein wird. Das Klo im Auto blieb unbenutzt.

Vielleicht schaffe ich es ja beim nächsten Ausflug, ein bisschen zu mcgyvern:
Aufstehen, Kaffee trinken, duschen, Hunde füttern, Geld, Schuhe, Jacke, Autoschlüssel. Abflug.

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