Beitragsbild für die Rezension zu »Graue Bienen« von Andrej Kurkow

Andrej Kurkow »Graue Bienen«

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Hardcover, Diogenes Verlag, 448 Seiten
01. August 2019, 24 Euro
ISBN 978-3-257-07082-8
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing

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Dieser Roman wurde mir freundlicherweise vom Verlag zu Rezensionszwecken kostenlos zur Verfügung gestellt. Selbstverständlich wird mein Urteil dadurch in keiner Weise beeinflusst.

# Das Zitat

»Er fühlte sich schon wie eine Biene in einem fremden Bienenstock. Und er wusste, wie Bienen mit Fremden umgingen!«

# Der Inhalt

Sergej Sergejitsch lebt in einem kleinen Dorf im Donbass: Malaja Starogradowka. Seit drei Jahren herrscht Krieg um die sogenannte »graue Zone«, die sowohl Russland als auch die Ukraine für sich beanspruchen. Seit drei Jahren wird tagtäglich geschossen. Strom gibt es nur selten, die Post kommt auch nicht mehr. Bis auf Sergej und seinen Kindheitsfeind Paschka sind alle Dorfbewohner fortgezogen. Die Hoffnung auf Frieden hat fast niemand mehr gehabt.

Sergej züchtet Bienen und schafft es irgendwie, wenig nachzudenken und noch weniger zu hinterfragen. Er nimmt hin. Er lebt im Jetzt. Und für seine Bienen. Manchmal denkt er an seine Exfrau und seine Tochter, die schon lange fort sind. Als das Grau des Winters schwindet, macht sich Sergej mit seinen Bienenvölkern auf nach Westen in Richtung Krim und erlebt kleine Abenteuer. Nichts wirklich Spektakuläres, auch auf der Reise bleibt das Leben schlicht und bescheiden wie sein Gemüt.

Sergej hat eine kleine Liebelei mit Galja, die einen Tante-Emma-Laden führt, aber bald schon reist er weiter, um seinen Bienenzüchterfreund Achtem auf der Krim zu besuchen. Doch der Freund ist nicht da, er wurde verschleppt und umgebracht, weil er Tartar ist, und Muslime werden auf der Krim nicht gut behandelt. Sergej wird von den Behörden schikaniert, man durchsucht einen Bienenstock. Als er das Volk endlich zurückhat, sind alle Bienen grau geworden. Von all dem Misstrauen um ihn herum angesteckt, zerstört Sergej seine Freundinnen und macht sich auf den Rückweg zu Kindheitsfeind Paschka und dem verlassenen Dorf. Wohin soll er auch sonst.

# Die Form

»Graue Bienen« ist ein in der dritten Person erzählter Roman. Er kommt mit einem schlichten, gar naiven Sprachduktus dahergesummt. So schlicht, wie auch das Gemüt von Sergej ist, so deprimierend grau und trist wirkt dadurch die Welt von Sergej Sergejitsch.
Der Roman wird linear erzählt, mit schleppender Sprache, sodass man fast körperlich spürt, dass das Leben im Krieg so beschwerlich ist, dass man beim Lesen meint, in die Knie gehen zu müssen.
»Graue Bienen« enthält Elemente aus Gleichnis und Parabel.

# Mein Fazit

Als überaus verstörend und bedrückend empfand ich diesen Roman. Bedrückend vor allem deshalb, da er in der Jetztzeit spielt und hochaktuell vom seit 2014 andauernden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine erzählt. Verstörend, weil die Situation von Sergej und Paschka für uns so unfassbar ist. Es ist JETZT, das 21. Jahrhundert! Jetzt herrscht mitten in Europa Krieg! Keine 1500 Kilometer von Berlin entfernt sitzen Menschen in überwiegend verlassenen und von Raketen zerstörten Dörfern; ohne Strom, ohne Arbeit, ohne Schulen und ohne Hoffnung.

Die graue Zone im Donbass erinnert mich an die 5-Kilometer-Zone, die von der Regierung der DDR 1952 eingerichtet worden war. Auch hier mussten Besucher Passierscheine nachweisen. Innerhalb dieser Zone lebte man unter erschwerten Bedingungen. Aber die DDR gibt es seit 30 Jahren nicht mehr, und den kalten Krieg kennen unsere Kinder nur aus dem Geschichtsunterricht.

Die schwierige Situation der unschuldigen »Kriegseinwohner«, wie auch Sergej sich nennt, die Lage der Krimtataren, die sich fortgesetzten Drangsalierungen der Obrigkeit gegenübersehen: All das lässt uns Kurkow durch die Augen von Sergej Sergejitsch sehen und prangert an und versteht doch auch nicht.

»Graue Bienen« ist ein verstörendes Gleichnis, eine Parallele zum Bienenstock, wo alle Volksmitglieder machen, was zu machen ist, weil es so ist. Keiner hinterfragt, jeder kann jederzeit Opfer werden. Und wehe, eine Biene verirrt sich in Gegenden, die von anderen Völkern beherrscht werden.

»Graue Bienen« ist ein wahrlich komplexer politischer Roman über den Krieg im Donbass, die Annexion der Krim und das Leben der einfachen Leute, die unschuldig hineingezogen werden.

Ich kann diesem Roman in meiner Rezension nicht gerecht werden, weil mir die Worte fehlen, ihn angemessen zu beschreiben. Es ist ein mulmiges Gefühl, ein fader Geschmack, den er bei mir hinterlassen und dafür gesorgt hat, dass ich mehr als zehn Wochen nicht über ihn schreiben, aber gleichzeitig auch kein anderes Buch anfassen konnte.

»Graue Bienen« ist ein Roman der Zeitgeschichte, der keinesfalls leicht verdaulich, aber unbedingt lesenswert ist. Ideale Lese-Zeitpunkte dafür mögen Herbst, Winter und verregnete Frühjahr- und Sommertage sein.

Claudia Stieglmayr

Weiterhin erschienen bei Diogenes folgende Romane von Andrej Kurkow:

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