Kau nicht neben meinem Ohr!

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von Claudia Stieglmayr

#Miss Funny

Als ich die Idee hatte, doch mal über eine meiner Macken zu schreiben, war ich gerade auf einer regnerischen Hunderunde im Wald. Weil ich im strömenden Regen mein Handy nicht rausholen wollte, dachte ich, ich könnte womöglich zum allerersten Mal Siri bemühen. Ich aktivierte also meine Smartwatch und sagte: »Erinnere mich daran, einen Artikel über Misophonie zu schreiben.« Siri erstellte dann selbstständig eine Notiz und sagte anschließend: »Hier ist deine Erinnerung.« Sie hatte geschrieben: Schreibe einen Artikel über Miso Funny. Das fand ich lustig. Ich bin also Miss Funny.

#Was ist Misophonie?

Was Misophonie allerdings tatsächlich bedeutet, ist weniger lustig. Wörtlich übersetzt heißt das »Hass auf Geräusche«. Wobei nicht die Intensität – die Lautstärke oder die Frequenz – des Geräusches ausschlaggebend für die physische und psychische Reaktion der Betroffenen ist, sondern allein dessen bloße Existenz.

Der Begriff Misophonie wird in der psychologischen Fachwelt seit 2001 verwendet. Nun, es ist ja immer schön, wenn eine seltene Sache einen Namen bekommt. Es sind tatsächlich gar nicht so viele Menschen, die unter dieser Störung leiden. Weniger als ein Prozent der Bevölkerung verspürt einen regelrechten Hass auf manche Geräusche. Daher erfährt der Misophoniker auch generell kaum Verständnis für seine Lage. Und viele Betroffene wissen nicht einmal, dass sie unter einer Störung leiden. Sie gelten in ihrer Umwelt schlicht als superempfindlich.

#79.999 Menschen und ich

Wie ist es also für mich und die geschätzten 79.999 anderen Menschen in Deutschland, die extrem zickig auf bestimmte Geräusche reagieren? Kaugeräusche sind vielleicht ein gutes Beispiel. Natürlich wird von vielen von uns zum Beispiel Schmatzen als ungehörig und unangenehm empfunden. Wer aber an Misophonie leidet, spürt unter Einfluss dieser Geräusche anschwellende Wut, Druck in der Brust oder auf Armen und Beinen. Manchmal steigt sogar der Blutdruck.
Die Betroffenen schaffen es nicht, dieses Geräusch auszublenden oder den Hass darauf zu beherrschen. Das Ohr scheint sich im Gegenteil auf genau dieses Geräusch zu fokussieren und alle anderen, neutralen Umgebungsgeräusche auszublenden. Häufig bleibt dann nur die Flucht aus der Situation.

#Kaugeräusche

©Ylva Stieglmayr

Das Problem mit den Kaugeräuschen habe ich auch insbesondere dann, wenn meine Mutter etwas kaut. Nun, das kann natürlich noch tiefere Ursachen haben. Das liegt daran, dass jedes Schallereignis – auch eine menschliche Stimme – vom Limbischen System eine emotionale Färbung, eine Wertung zugeordnet bekommt.
Jedenfalls ist das alles ziemlich blöd, denn wir essen mittags immer zusammen.

Grundsätzlich habe ich diese Geräuschwut ganz gut im Griff, indem ich dafür sorge, dass es andere Schallwellen in der Umgebung gibt, die den Kau-Sound überlagern. Zum Beispiel dudelt mittags immer das Radio. Und außerdem sorge ich dafür, dass ich nicht direkt neben meiner Mutter sitze. Aber manchmal ist es für mich trotzdem so schlimm, dass ich kurz den Raum verlassen und einmal tief durchatmen muss.

#Popcorn, Chips und Telefon

»Kau nicht neben meinem Ohr!« Diesen mit leicht aggressivem Unterton versehenen, häufig wütend gezischten Befehl kennen meine Kinder zum Beispiel sehr gut. Denn wenn direkt neben meinem Ohr gekaut wird, ist es auch völlig gleichgültig, wer das macht. Das macht mich immer hassig. Gleiches gilt für Menschen, die essen, während sie mit mir telefonieren. Diese kauen mir dann quasi direkt ins Ohr. Das kann ich überhaupt nicht aushalten. Am liebsten würde ich in diesem Momenten den Hörer gegen die Wand knallen.

Das ist übrigens auch einer der Gründe dafür, weshalb ich so ungern ins Kino gehe. Dort sind mit Sicherheit Menschen um mich herum, die mit offenem Mund Popcorn oder Chips kauen. Das kann mir dann den ganzen Film versauen. Außerdem sitze ich sowieso sehr, sehr ungern neben fremden Menschen. Das hat aber generell mehr mit Gerüchen als mit Geräuschen zu tun. Gerüche sind für mich und mein Limbisches System extrem wichtig. So wichtig, dass ich früher mal Schnuffelchen genannt wurde und beim Sport ein Gerät nicht nutzen konnte. Davon ein anderes Mal mehr.

#Einatmen, ausatmen

Neulich habe ich, anstatt in aller Eile einzukaufen, die Trainings-Stunde meines Sohnes nur für mich nutzen und ganz in Ruhe ein Buch lesen wollen. Leider hatte eine andere Mutter dieselbe Idee, und so hockten wir gemeinsam in einer Umkleide. Und sie atmete. Na sowas. Muss sie ja auch. Und vermutlich tat sie es gar nicht nicht wirklich laut (sie röchelte oder schniefte auch nicht), aber ich spürte, wie in mir so langsam und unaufhaltsam die Wut hochkroch.

Früher hätte ich versucht, mich in irgendeiner Weise zusammenzureißen, ich hätte mich blöd und hysterisch gefunden – und hätte dennoch nichts an dieser beständig wachsenden Wut ändern können. So manches Mal habe ich schon, letztendlich doch meine Fassung verlierend, unschuldige Leute angefaucht: »Müssen Sie so laut atmen?« Peinlich.

An jenem Tag war ich jedoch achtsam mit mir und meiner Umgebung und bin genau in dem Moment aufsteigenden Hasses einfach gegangen, habe mich ins Treppenhaus gesetzt und dort mein Buch gelesen. Das war dann völlig okay für mich, und die Wut konnte in Ruhe verrauchen. Die andere Mutter ist übrigens wirklich richtig nett.

#Klickeklick

Manche von Misophonie Betroffenen können nervöses Kugelschreiberklicken nicht ertragen. Und während ich noch darüber nachdachte, ob ich dazugehöre, geschah es.

Ich wartete gerade in einem Wartezimmer darauf, aufgerufen zu werden, als ein anderer Wartender seinen Fragebogen fertig ausgefüllt hatte und damit begann, das lockere Ende des Kugelschreibers zu malträtieren. Klickeklick – klickeklick – klickeklick. Okay, dachte ich, als ich die altbekannte Wut in mir aufsteigen spürte, ja, auch ich gehöre leider dazu. Ehe ich aber ausflippen konnte, wurde ich zum Glück aufgerufen und konnte der unerträglichen Situation unbemerkt entkommen.

#Umgelenkte Aggression

Manchmal müssen auch zwei Trigger gleichzeitig aktiviert werden, damit ich in Rage gerate. Wenn ich beispielsweise versuche, diese Internetsprache zu verstehen und an dem Outfit meines Blogs zu basteln – und es klappt irgendwie nix. Dann entsteht so etwas wie umgelenkte Aggression, und mein Ärger über mich selbst und meine Begriffsstutzigkeit weiten sich quasi auf Umgebungsgeräusche aus. Dann kann es sein, dass ich die Kinder, die ganz friedlich und fröhlich mit der Wii spielen, ganz plötzlich giftig anfauche, sie sollen die Bonbons nicht im Mund zerknacken oder gar mit dem Gummibärchenpapier knistern. Chips kauen geht dann auch überhaupt gar nicht.

#Glück im Unglück

Aber alles in allem habe ich (und damit meine Umwelt) noch Glück gehabt, denn meine Misophonie ist anscheinend eher schwächer ausgeprägt. Es gibt Betroffene, die können kaum noch am öffentlichen Leben teilnehmen, weil sie es beispielsweise nicht aushalten, mit anderen Menschen in Bus oder Bahn zu sitzen.

#Weitere Informationen

Wenn Ihr Euch in meinem Text wiedererkannt habt, findet Ihr hier weitere Informationen zum Thema:

Blende das doch einfach aus! Ein Text zum Thema Hochsensibilität von meiner dienstältesten Schulfreundin und Reisebloggerin Andrea Lammert

Wenn Geräusche in den Wahnsinn treiben
Ohrensausen
Misophonie

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